Mehr noch: Er ist Mensch

Was fasziniert stärker als der Einzelgänger, der in geheimnisvollem Werk die Welt präsentiert? Würde er sie aber repräsentieren, ginge das Werk in die Breite, in die endlose, ginge es in die Waagerechte. Präsentiert er sie, geht es in die Enge, ins formal Ausschliessliche, liegt alles beschlossen – und nach unten und oben offen – in der Senkrechten. Dort blüht es streng und gesetzlich. Metaphorisch gesprochen, fügt sich also innerhalb einer Ausstellung eines solchens Einzelgängers in der notwendigen Begegnung der Repräsentation mit dem Präsentieren ein eigentümliches Sinnbild, vielfach missbraucht, aber deshalb nicht weniger wirksam, brauchbar, rein, vielfältig, gesellschaftlich – das Kreuz.

Wilfried Riess Werk ist, indem es einsam in der heutigen Kunstlandschaft steht, ein Kreuz, das Wort ebenso im leichtfertigen sprachlichen Umgang gemeint wie in tief symbolischer Bedeutung, die den Künstler persönlich und sein Tun und Lassen einschliesst. Ich kenne ihn seit über 25 Jahren, habe dann und wann über ihn publiziert und dann und wann sehr gemocht, oft vermieden, über seine Ausstellungen zu schreiben, während ich bei ihm bei einem zufälligen Glas Wein lasche Komplimente machte, und tiefe Gespräche geführt habe. Wilfried Riess reizt mich: Er hat mich immer bezaubert mit seiner Ernsthaftigkeit und gleichzeitig auf Distanz gehalten mit seiner bedingungslosen Sturheit. Die Wurzeln seines Werks liegen im Übergang der Gotik zur deutschen Renaissance. Es besitzt eine Grundkraft und Grund-Überzeugung der Liebe und des Leidens, die den durchschnittlich begabten Kunstliebhaber, -freund, -betrachter, -experten romantisch und realistisch leicht überfordert, weil es sehr bunt und manchmal grell nach nichts anderem fragt, als nach dem Sehen dahinter.

Um “hinter” etwas zu sehen, muss man das, was man sieht, schon exakt studiert haben. Eine Mühsamkeit, die wir nicht nur gewohnheitsmässig verlernt, sondern die wir als ein kommerzieller Verbot auch längst begriffen haben und diesem folgen. Anderweitig würde uns ja, was wir täglich visuell vorgesetzt bekommen (auch und gerade in der Kunst), geistig das Hirn ausblasen.

Hier setzt der Künstler Wilfried Riess zum Kraftakt an, der, was wir von den Riessschen Bildern betrachten oder auch bloss im Vorübergehen wahrnehmen, zum Umgekehrten zu machen sucht, zum Anlass der Innenschau, in der sich das, was wir von den Riessschen Bildern sehen, betrachten oder auch bloss im Vorübergehen wahrnehmen, in ein persönliches Erlebnis verwandelt, in dem sich peu à peu alles verwandeln mag zur Individuation. Er benützt eine zufällige Form dazu, die Lilienblüte.

“Geplant war der klare Entscheid: Ich brauche eine Form.” Von Anfang an galt das Interesse der menschlichen Figur (und der künstlerische Dank gilt von daher dem Studium des fleischlichen Menschen, das Alberto Giacometti leistete). Die eigenen Studien und Durch– und Bearbeitung irgendwie als leblos empfindend, während er aber bereits in mehrjährigen Zyklen arbeitete, führte ein Spaziergang den Künstler eines Tages am Blumenladen vorbei, in dessen Schaufenster eine weisse Lilie stand, “und ich dachte, ja, das könnte es doch sein, hab’ eine gekauft, mit nach Hause genommen und hab’ sie dann zu so einer Figur konstruiert – zu einer konstruierten Figur kombiniert, um mal das Fremde – das war auch immer meine Absicht – darzustellen, etwas, das mir selber so fremd wie möglich ist.”

Künstlerisch bleibt von dem Tag an die Lilienblüte nicht nur ein Riesssches Markenzeichen, sie formt sich und erweitert sich selbst in der intellektuellen Recherche und im handwerklichen Lernprozess. Sie wächst. Wie viele Wandlungen sie durchmachen und Emotionen (Emotionen ?? )sie erleben wird, unterliegt dem künftigen künstlerischen Lebensweg Riess. Die von ihn immer neu gestaltete Lilie bleibt im bisherigen Hauptwerk die Chiffre, in der sich beides ausdrückt: seine eigene innerste Persönlichkeit seiner gewählten Symbole und deren Darstellung.
Die Bilder irgendwie theologisch einzuordnen oder auszudeuten, überlasse ich gerne den christlichen Geistlichen und nehme zur Kenntnis, dass in der Wissenschaft der abendländischen Theologie – die Diskussion wird nicht in der Kunst geführt! – unter ihnen Uneinigkeit herrscht, Zustimmung und Zuneigung hier, Ablehnung und Abneigung dort. Ich erkläre das für unwichtig. Mir genügt das vertiefte Erleben einer subjektiven Geistigkeit, dass mir Riess als offenes Angebot an die Wand liefert. (Es sei an der Stelle eingefügt, dass – beispielsweise – die Farbwahl, die Farben also insgesamt, keinerlei tradierte Farbsymbolik folgt, sondern ausschliesslich dem künstlerischen Instinkt und Gusto des Malers; würde sie sich mit alten, christlichen Farbcodices decken, dann aus Zufall.

„Was ist das Unsichtbar, das, was uns auch immer begleitet?“ Sichtbar weist Wilfried Riess darauf hin, man muss es nur ebenso paradox sehen wollen, „was könnte das sein?“
Umgekehrt gefragt: Was ist im speziellen Fall das sichtbar Bekannte? Die Blüten, ihre Stengel und Blätter, die Gefässe usw. Bleiben wir zunächst bei den Gefässen.

Sie abstrahieren nicht umsonst die Figur des Menschen (wir erinnern uns des Dankes an Alberto Giacometti). Was befindet sich in ihnen? Diese Frage impliziert die drängende Neugier des Malers, der es auch nicht weiss und der mit seinen Bildern darauf keine Antwort geben kann und will, sondern die Frage vielmehr umzustellen vermag: Was geschieht denn in den Gefässen? Eine Frage, die nichts festhält, sondern – gemalt! – ein Geheimnis formuliert, das Lebensgeheimnis des Wachstums.

Oder eine Lilienblüte. Nimmt man Riess Lilie „beim Wort“, so ist sie nichts anderes als eine schöne Blume und eine Heilpflanze, spricht als metaphorisch vom ewigen Heil. Die Lilie ist im Kanon der Kunstgeschichte seit Alters her ein Marienattribut, das, sehr kurz gesagt, die Unschuld bedeutet, weibliche oder männliche, körperliche wie spirituelle. Jeder Mensch trägt sie in sich und ebenso die Potenz, sich ganz und gar in sie (zurück) zu verwandeln – ein Lebensweg. Übrigens riecht das Mark des Lilienstengels nach Milch.
Wenn Wilfried Riess malt, ist der Körper anwesend. Wenn er mit dem Skalpell schneidet, ist der Künstler Chirurg, der die Materie des Schneidmaterials und Messers genau kennt und seine Handgriffe exakt einsetzt. Jeder Fehlgriff – ein nicht korrigierbarer Fehlgriff. Das Bild, das Leben, wäre futsch.
Vor diesem Hintergrund sind Malerei und „Scherenschnitte“ zu begreifen: In der Liebe gibt es keine Korrektur. Sie ist hoch oder niedrig, aber merkwürdigerweise zugleich beides, eine Anstrengung, die nach sorgfältiger Pflege ruft.
Ich habe kaum einen sorgfältigeren Künstler kennengelernt, die Liebe darzustellen. Das läuft, wie gesagt, seit über 25 Jahren und ist nicht immer lustig. Die Darstellung der Liebe schliesst in der Kunstgeschichte oft die Lustigkeit ein, aber als Prinzip aus. Sie lässt einen viel tiefer schauen, in den Menschen.
Die Darstellung? Ich glaube gar nicht, dass Wilfried Riess tatsächlich die Liebe darstellen will, selbst wenn er das im Kopf hätte. Er will eine (vielleicht die einzige) Möglichkeit darstellen zu leben, indem das Eine ins Andere fliessend gelangt, ein Zurück findet und die Stockung überwindet, indem ein simples Tröpfeln vom oberen Bildrand zum unteren bedeutet, dass von unten nach oben – Oh Wunder! – dasselbe passiert.

Es wäre völlig verfehlt, die Malerei von Wilfried Riess anders zu verstehen als, was sie ist: Malerei. Wilfried Riess ist kein Botschafter oder Verkünder, nur ganz selbstverständlich ein religiöser Mensch, der sich frei zwischen den Konfessionen zu bewegen weiss und einfach nicht einsehen mag, weshalb er sich fremdländischer Formen spiritueller Wahrheiten bedienen soll, wenn die abendländischen Traditionen ihm solchen Reichtum bieten. Ziehen sich viel andere zeitgenössische Künstlerpersönlichkeiten (auch aus Literatur-, Musik- und Filmwelt) gerne zur geistigen Versenkung in asiatische Klöster asiatischer Regionen zurück, findet er seine Ruhe und Verfestigung und Klärung in einem christlichen in Zentraleuropa. Prinzipiell, so begreife ich die Malerei von Wilfried Riess, ist Wachstum Schönheit, die sich Destruktion widersetzt, und ein sich Transformierendes, indem es die Vergänglichkeit bereits in sich einschliesst, aus der Vergänglichkeit aber kein Ende ableitet, sondern wieder ein Werden, eine neue Form.

Wachstum und Transformation wären auch diesen Bildern nicht biologisch zu begreifen, auch wenn sie sich der Flora symbolisch bedienen, sondern völlig immateriell. Das ist eine unmoderne Haltung – und damit die aktuellste, die man sich vorstellen kann.

Hinweis: Wer ganz genau (mit der Lupe) hinschaut, wird als Struktur des Firmaments, das einigen Scherenschnitten als Untergrund dient, lateinische Schriftzeichen erkennen. Sie lassen sich (fast) lesen.

Zusatz 1: Ich hatte für mein freundschaftliches Katalogvorwort einen Titel im Sinn, der die Begriffe Eucharistie oder Monstranz mittragen würde.

Zusatz 2: Meinen Titel „Mehr noch: Er ist Mensch!“ verdanke ich einer Anregung durch Dr. Thomas Kellein, Direktor der Kunsthalle Bielefeld. Er spricht in seinem Katalogvorwort zu Wilfried Riess dortiger Ausstellung anno 2000 scheinbar völlig unmotiviert von Mozarts „Zauberflöte“.

Zusatz 3: Während ich diese Zeilen schreibe, liege ich mit einer elenden Erkältung im Bett und telefoniere mit Wilfried, dem Freund. Wir sprechen über die Arbeit, und er schliesst: „Ich geb dir noch einen Tip: Wärmeflasche.“ Es folgt ein kurzer verwirrter Dialog über die Wohltat der Körperhitze, denn ich nehme ganz selbstverständlich an, er spreche über seine Bilder.

Tadeus Pfeiffer, im Januar 2003