St. Wolfgangaltar, 1519/2007 –
Ströme lebendigen Wassers
Für den verlorenen Schrein des spätgotischen Flügelaltars
von St. Wolfgang in Hünenberg von 1519, der heute ein Hauptwerk
ist in der Museumssammlung der Burg
Zug, hat Wilfried Riess ein ebenso monumentales wie filigranes
Schnittbild geschaffen. Im Rahmen der Umsetzung eines neuen Raum-
und Ausstellungskonzepts wurde der Altar im Herbst 2005 neu aufgestellt
– in einem Raum, der den Besucherinnen und Besuchern von heute
die Stimmung mittelalterlicher Andachtsräume nahe zu bringen
versucht. Für die Ausstellung 'Schnittzauber. Papierschnittkunst
aus China und Europa’ hat Riess die anspruchsvolle Herausforderung
angenommen, den mächtigen Altar fast 500 Jahre nach seiner
Entstehung - nicht zu ergänzen, sondern dessen Spiritualität
mit einer sensiblen, zeitgenössischen Arbeit zu reflektieren
und zugleich für den modernen Menschen unmittelbar erlebbar
zu machen.
Die Erscheinung des Werks in dem geöffneten Altar ist tatsächlich
überwältigend. Schon durch ihre schiere Machart betrifft
die Arbeit des Künstlers direkt. Sein komplexes Schnittbild
erscheint praktisch als Skulptur, was es wegen seiner Vielschichtigkeit
im Grunde auch ist. Bis zu fünf Schichten übereinander,
stets auf Durchsicht angelegt, geben allerdings nicht nur Tiefe,
sie ermöglichen ebenso, zusammen mit den vier verschiedenen
Goldtönen der Blattvergoldung einzelner Teile, ein einzigartiges
Spiel von Reflexen, je nach Einfall des Lichts oder Standpunkt des
Betrachters. Verstärkt wird dieses Lichtspiel durch den Goldgrund,
über den die Arbeit optisch und von der Tradition her in den
gotischen Altar eingebunden ist.
Das Werk von Riess entbehrt aber aller eindeutigen christlichen
Symbolik, mit Ausnahme der Dornenkrone, die wiederum nicht sogleich
auffällt. Von seinen Motiven her ist es ein überaus poetisches,
allerdings menschenleeres, fast metaphysisches Bild: ein Baum, vor
dem eine Figur steht, geformt gänzlich aus Blüten, aus
denen sich Springbrunnen ergiessen, dann vier vasenförmige
Behältnisse, verschieden gross und unterschiedlich geformt,
eines mit einem pulsierenden 'Herzkern', ein anderes eher mit einem
'Panzer' umgeben, sowie zwei Blüten - Lilienblüten in
Aufsicht -, die wie Sonne und Mond über der Szene schweben,
und schliesslich über dem Baum, ihn gleichsam bekrönend,
die Dornenkrone. Alle Motive sind durchaus symbolisch zu lesen und
als solche auch offen für verschiedene Deutungen.
Die Dornenkrone allerdings stellt einerseits eine Verbindung her
zu den Gemälden auf den Aussenseiten der Altarflügel,
der 'Werktagsansicht' des Altars, welche Szenen aus der Leidensgeschichte
Jesu darstellen (die Kreuzabnahme und die Beweinung Christi). Andererseits
weist sie den Weg für eine mögliche christliche Deutung.
Die Blütenfigur kann als Christus und der Baum als Lebensbaum
verstanden werden. "Ich bin das Leben," sagt Christus
im Evangelium. Die Blüten wiederum sind Lilienkelche und erinnern
an das Jesuswort über die Lilien des Feldes: "sie mühen
sich nicht ab und spinnen nicht, aber ich sage euch, nicht einmal
Salomon in all seiner Pracht, war gekleidet wie eine von ihnen."(Mt.
7, 28f). Eine Stelle, bei der es um das Vertrauen in Gott geht und
deren Sinnspitze die ist, dass, wo dieses Vertrauen vollkommen ist,
der Mensch Gott wird. Weil Jesus eben dieses Vertrauen hat, ist
er Gott, Mensch und Gott zugleich. Um diese mystische Einsicht umzusetzen,
ist es durchaus konsequent, Christus als reine Lilienblütenfigur
zu symbolisieren. Und wie um dieses Bild nochmals zu verdichten,
quellen aus diesen Lilienblüten Wasserstahlen. Auch sie erinnern
an ein Jesuswort: "Wer auf mich vertraut, aus dem werden Ströme
lebendigen, lebensspendenden Wassers strömen."(Jh 7,38)
"All dies gilt es zu verinnerlichen," sagt Wilfried Riess
so schlicht wie herausfordernd.
So komplex wie die Machart des Schnittbilds ist auch dessen Bedeutung.
(Die Interpretation könnte noch viel weiter gehen...) Und obwohl
im poetischen Sinne offen, ist sie vollkommen durchdrungen von christlicher
Mystik. Zweifellos gibt eben dies dem Werk seine ungeheure Kraft.
Und was hier zum Ausdruck gebracht ist, ist durchaus erarbeitet,
erlebt, erlitten, erkämpft, erschaffen. Das Schneiden des Bildes
ist für Riess Meditation, und sein ,Schnitt' kann uns heutigen
Menschen zur Meditation dienen. Die mittelalterliche, leidenszentrierte
Frömmigkeit des Hünenberger Altars hat Riess dabei ganz
organisch in eine ebenso ursprüngliche wie zeitgemässe,
lebensbejahende und befreiende Spiritualität überführt.
Urs-Beat Frei |